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Do. 6.10.  Abfahrt Buisson

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Auffallend finde ich die ruhige, unaufgeregte Art der Leute. Auf die holprigste Frage reagieren sie „einfach normal“. Sehr angenehm.

Mit vielen Lagen Unterwäsche geht die Nacht einigermaßen, wenn es auch nicht richtig kuschelig ist. Da ich ohnehin nichts unternehmen kann  -  nicht einmal ein Spaziergang lohnt sich  -  bleibe ich liegen und hoffe, dass die Sonne mich aufwärmt. Klappt nicht so richtig, aber so richtig frieren tue ich auch nicht.

Zum Glück ist der Bootsrucksack sehr großzügig geschnitten, so dass ich einige schwere Sachen da hinein bekomme. Dem Weg zum Bahnhof sehe ich mit etwas Befürchtungen entgegen: die gestrige Plackerei steckt mir noch in Muskeln und Knochen. Nach ein paar Hundert Metern bin ich froh, dass ich reichlich Zeit dafür kalkuliert habe, aber dann komme ich doch in eine Art Sherpa-Trott und wider Erwarten mit einem Mal Absetzen bis zum Bahnhof. Gepäck abliefern und dann bin ich frei. Aufatmen.

Tagsüber ist das Städtchen auch nicht viel lebendiger als abends. Sehr übersichtlich, aber Bäcker, Metzger, ein SPAR-Laden, Apotheke, Bar, alles vorhanden. Strahlend blauer Himmel mit Sonnenschein. Draußen vor der Bar sitzend lasse ich mir die Sonne auf den Pelz scheinen, sie wärmt richtig durch. So könnte es gut gehen!

Die Gegend hier ist wirklich reizend, gerade auch zum Paddeln. Die Landschaft lieblich und ohne Industrie, nicht einmal Hochspannungsleitungen. Immer wieder Schlösser, die das Auge erfreuen, mehr als die Burgen, die es da in Deutschland gäbe. So kann man gut sehen, dass der Feudalismus in Frankreich viel entwickelter war als in den nördlichen Ländern Europas. Entsprechend sind die Unterschiede im Lebensstil ausgeprägter, der angehäufte Adelsreichtum augenfälliger.

Ursache: der in der Landwirtschaft erzeugte Überschuss (Surplus, die Produktion über die Subsistenz hinaus) war in den südlichen Ländern Europas entsprechend größer als in den nördlichen.

Aber wenn es zu heiß wird, funktionierte es auch nicht mit dem landwirtschaftlich erzeugten Surplus (Griechenland, Iberien). Da schwitzt man wohl zu sehr beim Paläste bauen.

Auf dem Weg vom Zeltplatz sehe ich Bäcker Joujou den Rasen vor seiner Bäckerei mähen. Er grüßt mich freundlich, und diesmal ist der Hitlergruß eindeutig, wenn er auch einen französischen Akzent hat: Joujous Arm ist nur knapp über der Waagerechten. Von wegen zackig.

Der Regional-Zug ab BUISSON ist tadellos, fährt an vielen stillgelegten Bahnhöfchen vorbei. Die nicht stillgelegten sehen auch nicht viel lebendiger aus. Wäre da nicht die üppigere Vegetation, könnte man die Gegend in Mecklenburg ansiedeln.

Ich sitze also wirklich gepackt im Zug und fahre Richtung Konstanz. Die zweite Umsteige­station ist AGEN, wo schon das Großstadtgetriebe braust. So hat es da im Bahnhof eine große Anzeigetafel, auf der die sechzig täglich abgehenden Züge verzeichnet sind. Drüber und drunter in großer gelber Schrift, permanent angebracht, der Hinweis: „Heute gehen nur die Züge mit einem gelben Leuchtpunkt vor der Anzeige“. Das ist für mich heute besonders praktisch, weil knapp die Hälfte der Züge wegen Streiks ausfällt. Praktischerweise haben die Streikenden es für mich äußerst günstig eingerichtet: ich kann einen TGV zuschlagfrei benutzen, und brauche nicht so lange auf dem grausligen Bahnhof von TOULOUSE-MATABIAU zu warten.

Im Nachtzug werde ich zwei Stunden zu früh geweckt, bei der Endhaltestelle Genf dafür gar nicht. Die Bahnarbeiter grinsen sich einen, als ich aus dem Bett steige und mich anziehe. In Genf muss ich mir für die Restfahrt noch eine Tageskarte kaufen. Versehentlich trage ich als Gültigkeitsdatum das gestrige Datum ein. Der Schaffner findet aber das Verkaufsdatum, nämlich heute, auf der Karte, so dass mein Versehen offensichtlich wird. Das war knapp, denn mit einem Datum von gestern wäre die Karte entwertet gewesen und ich hätte zusätzlich noch eine normale Fahrkarte zahlen müssen, mindestens.

Ankunft in Konstanz, ohne dass irgendwie oder irgendwo ein Hinweis auf die Grenze erfolgt ist oder dass man sich irgendwo melden müsse.

Das ging so glatt, dass ich am Bahnhof auf ein Taxi verzichte, stattdessen den schweren Rucksack, Reise- und Umhängetasche eigenarmig in die Klostergasse befördere, ohne abzusetzen. Also gestärkt zurück!